Jakob Schirrmacher im Interview: „Es wird nicht offiziell zensiert, weil die bloße Androhung reicht“

Der Sohn des legendären FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher legt sein erstes Buch vor und greift die deutsche Meinungspolizei frontal an. Ein Interview.
Falschinformationen sind wie ein Schwelbrand. Erst sind sie unsichtbar, brechen plötzlich und rasant aus. Vor einigen Jahren brannte das Feuer von Falschinformationen fast unbemerkbar vor sich hin. Das Interesse hielt sich in Grenzen, bis das digitale Zeitalter den Flammen eine neue Dynamik gab. Der Begriff Desinformation löste seinen Vorgänger ab und schnell war klar – der Staat muss die Kontrolle zurückgewinnen. Er muss die Flammen bekämpfen. Das Feuer löschen. Die Verbreitung von Desinformationen unterbinden.
Aber ist ein solches Vorgehen angemessen? Oder laufen wir Gefahr, uns vorschreiben zu lassen, was richtig und was falsch ist? In seinem Buch „Desinformiere Dich!“ geht Autor und Journalist Frank Schirrmacher diesen Fragen nach und erklärt im Interview mit der Berliner Zeitung, warum er die Verwendung des Begriffs Desinformation für nicht zutreffend hält und wieso der Mensch noch nie dazu in der Lage war, zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden zu können.
Herr Schirrmacher, sind Sie ein streitlustiger Mensch?
Das kommt darauf an, mit wem ich mich austausche. Mit meinem Liebsten streite ich mich sehr ungern. Trotzdem gehört es für mich einfach dazu, in einen intensiven Austausch zu treten – auch auf die Gefahr hin, dass man sich streitet. Streit hat seine Daseinsberechtigung, weil er uns voranbringt.
Worauf ich hinauswill: Auf der ersten Seite Ihres Buches sprechen Sie den Leser an und teilen ihm mit, dass „diese Streitschrift vor allem eines will: streiten“. Wieso ist Ihnen dieser Aspekt so wichtig?
Weil mir in der Recherche zum Thema Desinformation aufgefallen ist, dass in diesem Themenbereich ein Konsens vorherrscht. Wenn Sie den Begriff „Desinformation“ oder „Fake News“ nachschlagen, dann stoßen Sie auf immer gleiche Definitionen.
Dass mit der Bezeichnung Desinformation die Verbreitung falscher oder irreführender Informationen gemeint ist?
Genau. Die Literatur ist sich einig, dass Desinformation eine Bedrohung ist, gegen die wir vorgehen müssen. Leider ist diese Betrachtungsweise einseitig. Die andere Seite der Medaille wird nicht gesehen und die Thematik wird aus der immer gleichen Perspektive betrachtet. Dabei sollten wir uns mit der gegebenen Definition kritisch auseinandersetzen und uns fragen: Was sind Desinformationen? Und können wir überhaupt trennscharf festlegen, welche Informationen desinformieren?
Was würden Sie sagen – wieso werden diese Fragen nicht gestellt?
Wir leben in einer durchaus pluralistischen Gesellschaft, die sich aber immer häufiger in kleinere Teilöffentlichkeiten verschachtelt und hinter eigenen Ideologien verschanzt – was den Diskurs erheblich erschwert. Und genau aus diesem Grund habe ich eine Streitschrift verfasst, die bewusst provoziert und pointiert formuliert ist. Ich wünsche mir, dass sich der Diskursraum wieder öffnet – in alle Richtungen.
Bevor wir inhaltlich tiefer einsteigen, lassen Sie uns über den Begriff „Desinformation“ sprechen, dem Sie ein eigenes Kapitel gewidmet haben. Was genau verstehen Sie unter Desinformation – und worin unterscheidet sie sich von klassischer Propaganda?
Wie bereits erwähnt, wird Desinformation heutzutage fast immer gleich definiert – im Kern geht es um die Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen mit Täuschungsabsicht. Aber wie definieren wir, was eine falsche Tatsachenbehauptung ist? Und wie lässt sich das belegen? Wie weisen wir eine Täuschungsabsicht nach? Genau deswegen fällt es mir persönlich sehr schwer, den Begriff Desinformation ohne Weiteres zu definieren und zu fassen. Wir sprechen über ein Themenfeld, in dem es ganz klar um Wahrheit und Lüge geht. Aber wenn wir uns den Ursprung und die Herkunft des Begriffs anschauen, dann sehen wir, dass es sich dabei um eine nachrichtendienstliche Vokabel handelt, die in den 1920er-Jahren in Russland eingeführt wurde.
Und wieso?
Desinformation wird in diesem Zusammenhang als Mechanismus beschrieben – eine Form der Kriegsführung und Propaganda. Wenn ein Staat gegen einen anderen operieren will, dann streut er bewusst und gezielt falsche Informationen. Diese Vokabel – Desinformation – war damals stark und fast ausschließlich im nachrichtendienstlichen Jargon verankert. In meinem Buch beschreibe ich, dass dieser Begriff ab 2016 eine Art Renaissance erlebt hat. Zwei Ereignisse waren dafür ausschlaggebend.
Erzählen Sie!
Die Wahl Donald Trumps hat den Begriff stark geprägt – aber auch der Brexit. Schnell wurde nach Ansätzen gesucht, um die Wahl Trumps und Großbritanniens Austritt aus der EU erklären zu können. Etliche Studien wurden angestoßen, die erklären wollten, dass Trumps Wahlsieg auf der Verbreitung von Desinformationen fußte. Beim Brexit fielen die Ergebnisse ähnlich aus, sodass sich die Vokabel so weit ausgedehnt hat, dass sie zu einem Containerbegriff mutiert ist. Desinformation meint alles und nichts zugleich.
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann können oder wollen Sie den Begriff Desinformation nicht klar definieren?
Meiner Meinung nach meinen wir Propaganda, nutzen aber den Begriff Desinformation. Deswegen sollten wir versuchen, uns von dieser nachrichtendienstlichen Vokabel zu lösen und wieder von dem sprechen, was es ist – Propaganda.
Woran machen Sie fest, ob es sich bei einer Information um Propaganda handelt?
Grundsätzlich sollten Sie sich im ersten Schritt mit der Akteursstruktur auseinandersetzen. Sprich: Wer hat diese Information verfasst? Ein Staat? Eine Einzelperson? Wenn es staatliche Akteure sind, würde ich vorerst von Propaganda sprechen und mir das Ausmaß einer solchen Kampagne näher anschauen. Wissen Sie, ich finde, wir sollten sehr vorsichtig sein, wenn wir Begriffe wie Desinformation nutzen und Bürgern unterstellen, dass sie gezielt falsche Informationen verbreitet haben. Vor allem im Hinblick auf unsere schnelllebige Diskurslandschaft, in der die Lüge von gestern der Fakt von morgen sein kann.
Die neue schwarz-rote Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag ein ehrgeiziges Ziel gesetzt, indem sie die bewusste Verbreitung „falscher Tatsachenbehauptungen“ bekämpfen will – insbesondere in der digitalen Welt. Wie bewerten Sie die gesetzliche Verankerung eines solchen „Lügenverbots“?
Wenn wir ehrlich sind, ist dieser Vorstoß ein absolutes Unding – gerade in Krisenzeiten. Wir sehen, dass solche Fake-News-Gesetze derzeit auf der ganzen Welt verabschiedet werden. Vor allem in totalitären Staaten wird der Meinungskorridor dadurch noch drastischer eingeengt. Nun kommen solche Gesetze aber auch in demokratischen Staaten zum Einsatz. Dieses Gesetzesvorhaben der neuen Bundesregierung ist ein Angriff auf die Grundwerte unserer Gesellschaft und ein Angriff auf unsere Demokratie. Mit Meinungsfreiheit hat das wenig zu tun, und es ist verkehrt, wenn sich der Staat als oberster Wahrheitswächter aufbaut, um definieren zu können, was wahr oder falsch ist.
Weil nicht mehr gestritten wird?
Und weil Wahrheitsfindung ein Prozess ist. Sie lässt sich nicht festlegen oder in Stein meißeln. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass alte Narrative ihre Gültigkeit verlieren und neue Erkenntnisse uns neue Perspektiven eröffnen. Dementsprechend ist es mehr als bedenklich, wenn der Staat anfängt, sich als Wahrheitsinstanz aufzubauen.
Haben Sie mit Blick auf das „Lügenverbot“ für sich bereits Konsequenzen gezogen und teilen in den sozialen Medien nicht mehr alles, was Sie sehen oder was Sie bewegt?
Der Effekt, den Sie beschreiben, ist der sogenannte Chilling-Effekt, der in eine Form von Selbstzensur mündet, die durch solche restriktiven Gesetze ausgelöst wird. Und genau darin liegt das Problem: Es wird nicht offiziell zensiert, weil es schon ausreicht, die Debatten- und Meinungskultur durch die bloße Androhung von Konsequenzen zu beeinflussen. Auch ich nehme wahr, dass dieser Effekt bei mir eintritt. Wenn ich etwas in den sozialen Medien poste, dann frage ich mich immer wieder, ob die Formulierung nicht doch zu provokant ist. Vielen Kollegen von mir geht es ähnlich.
Wie sollte die Politik denn Ihrer Meinung nach mit Desinformation umgehen – oder anders gefragt: Wie kann eine Demokratie auf Desinformation reagieren, ohne selbst restriktive und womöglich autoritäre Tendenzen zu entwickeln?
Als Kind der 90er-Jahre bin ich ein großer Fan des offenen und freien Internets, wie wir es einmal kannten. Sogenannte Fact-Checking-Organisationen, die durchaus auch ihre Daseinsberechtigung haben, sind ein Teil des Problems. Nicht alle von ihnen sind so neutral, wie sie es annehmen oder wirken. Eine, wie ich finde, bessere Alternative ist der Community-Ansatz, der auf X bereits Anwendung findet. Nutzer können Beiträge markieren und darauf hinweisen, dass ein Beitrag irreführend oder eine Statistik aus dem Kontext gerissen ist. Wir haben die Möglichkeit, bestimmten Aussagen zu widersprechen, ohne sie gleich zu löschen. Deswegen finde ich es grundsätzlich besser, wenn wir gar nichts löschen. Wir lassen die Sachen einfach so stehen.
Blenden Sie dabei aber nicht ein großes Problem aus? Auf der jeweiligen Plattform können Sie das Bild einer Grafik mit einer Community-Note versehen. Wird das Bild gespeichert und über andere Kanäle weiterverbreitet, dann ist dieser Hinweis aber nicht mehr zu sehen. Die falsche Grafik wird tausendfach weiterverbreitet.
Das ist absolut richtig. Deswegen gibt es Journalisten und Journalistinnen, die aufklären – und eben auch Fact-Checking-Organisationen. Trotzdem bleibe ich dabei, dass zu viel Staat und zu viel Regulierung dieser Debatte und unserer Gesellschaft schadet. Was wir brauchen, sind Bürgerinnen und Bürger, die selbst denken und herausfinden, ob eine Information irreführend sein könnte. Was wir brauchen, sind Initiativen, die Medienkompetenz stärken – und nicht damit anfangen, den Diskurs zu beschneiden.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Verbreitung von Desinformation kein neuzeitliches Social-Media-Phänomen ist. Das würde dann aber bedeuten, dass wir die Kompetenz beziehungsweise den Umgang mit Desinformation nie erlernt haben.
Ja, wir sind darauf hereingefallen, wenn uns Informationen als Desinformationen präsentiert wurden. Nehmen wir den ungarisch-österreichischen Arzt Ignaz Semmelweis, der im 19. Jahrhundert sagte, dass man sich die Hände waschen sollte, bevor man ein Kind entbindet. Er wurde für verrückt erklärt, seine Kollegen haben ihn aus dem wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen – und viele Jahre später stellte sich heraus, dass er recht hatte. Aber das ist nur ein Beispiel, und damit will ich deutlich machen, dass wir manchmal das Gefühl haben, wir halten die Wahrheit in den Händen – und werden dann eines Besseren belehrt. Die Kompetenz, Täuschung und Manipulation unmittelbar zu erkennen, hatten wir, glaube ich, noch nie.
In Ihrem Buch spielen die Corona-Pandemie und die damit verbundene Verbreitung von Informationen eine große Rolle. Würden Sie sagen, dass diese Zeit der Auslöser war, ein Buch über das Thema Desinformation zu schreiben?Rückblickend: ja. Jeder, der kritisch mit der Pandemie umging, wurde schnell in eine Ecke gedrängt und als Corona-Leugner bezeichnet. Damals wurde die Theorie, dass das Virus aus einem Labor stammt, als Verschwörungstheorie abgetan, und Beiträge auf X, die dieser These nachgingen, wurden gelöscht. Mittlerweile gilt diese Theorie als wahrscheinliche Ursache für den Ausbruch. Und was zeigt uns das? Ich kann nur mit Argumenten diskutieren – nicht mit Regulation und Verboten.
Wieso ist Ihr Buch im Eigenverlag erschienen? War das eine bewusste Entscheidung oder haben Sie keinen Verlag gefunden, der Ihre Streitschrift veröffentlichen wollte?Zwei Aspekte haben dazu geführt. Erstens wollte ich das Buch so schnell wie möglich veröffentlichen, nachdem das „Lügenverbot“ in den Koalitionsvertrag aufgenommen worden war. Zweitens hatte ich schon länger am Buch gearbeitet und immer wieder ein Exposé eingereicht. Leider haben mir alle Verlage eine Absage erteilt.
Wieso?
Das Thema sei zu heikel. Es wurden unterschiedliche Gründe genannt. Dann habe ich mich dazu entschieden, es selbst zu verlegen, weil mir das Thema am Herzen liegt und ich meine Gedanken dazu teilen wollte. Es hat mir unter den Nägeln gebrannt.
Sie haben Ihr Buch Ihrem 2014 verstorbenen Vater Frank Schirrmacher gewidmet, der selbst als Journalist und Autor tätig war. Gibt es Punkte in Ihrem Buch, bei denen Ihr Vater Ihnen widersprochen und mit Ihnen gestritten hätte?
Tatsächlich frage ich mich oft, wie mein Vater bestimmte Dinge sehen würde, die heute passieren. In Gedanken streite ich immer noch mit ihm über viele Themen. Und als mein Vater noch lebte, haben wir es genossen, kontrovers zu diskutieren. Als ich noch in meiner jugendlichen Sturm-und-Drang-Phase war, haben wir oft gestritten – obwohl man insgeheim wusste, dass er vielleicht doch recht hatte. Ich glaube, mittlerweile würden wir eher diskutieren als streiten. Eines aber weiß ich sicher: Er wäre ebenso besorgt wie ich darüber, was in der Welt geschieht – vor allem darüber, wie schnell wir bereit sind, Freiheit gegen vermeintliche Sicherheit einzutauschen.
Jakob Schirrmacher: Desinformiere Dich! Eine Streitschrift. Im Selbstverlag erschienen. 164 Seiten, 18 Euro
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